„Sie sind seit 1982 die erste Person, mit der ich darüber gesprochen habe.“
Ich bekomme Gänsehaut.
Wieder so ein Telefonat, nachdem ich mich erst mal setzen muss. Es sind mittlerweile so viele Frauen, die mir ihr Vertrauen geschenkt haben. Die mir erzählt haben, wie die dunkelste Stunde in ihrem Leben aussah.
Von Buddha ist diese Geschichte überliefert:
Eine Mutter hat ihren viel geliebten Erstgeborenen Sohn verloren. Sie geht zu Buddha und bittet ihn um Trost. Er sagt zu ihr, sie solle fünf Senfkörner sammeln, die von einer Familie stammen, die kein Leid erfahren musste.
Die Frau geht von Tür zu Tür und versucht die fünf Senfkörner einzusammeln. Ich weiß nicht mehr, wie lange sie es versucht hat. Aber der Sinn der Übung ist klar: Sie macht die Erfahrung, dass das Leid zum Leben gehört und vor allem, dass sie nicht alleine ist.
Jetzt höre ich mich an wie ein Prediger! Aber ich schreibe das, um zu erklären, weshalb ich all das Leid, das mir anvertraut wurde, hier aufschreibe. Die Senfkorn sammelnde Frau hat gewiss ähnlich viele unglaublich schlimme Geschichten gehört.
Die Frau, die seit 1982 mit niemandem über das Erlebte gesprochen hat, hat eine Eileiter-Schwangerschaft nur ganz knapp überlebt. Sie hatte sich ein Kind gewünscht. Sooo sehr. Dann war sie irgendwann zusammengeklappt und kam ins Krankenhaus. Sie wurde Notoperiert. Als sie aus der Narkose erwachte, lernte sie, dass sie schwanger gewesen war. Und dass sie das Kind verloren hatte. Da die Schwangerschaft nicht bekannt gewesen war, musste das Embryo förmlich gesucht werden. Die Narbe, die sie quer über ihren Körper trägt, erinnert sie jeden Tag schmerzlich an ihr Kind. Ihre primäre Aufgabe war nun sich zu freuen, dass sie überlebt hatte. Inmitten von Babygeschrei auf der gynäkologischen Station…
So viele Varianten von Leid
Ich erinnere mich an eine Frau, die mir erzählte, sie hat vor mehr als 40 Jahre die Geburt ihres Kindes nur um Haaresbreite überlebt. Ihr Kind kam zwar lebend zur Welt, war aber nicht lebensfähig. Die Schwestern wickelnden es in ein Handtuch und legten es auf die Fensterbank – zum „Ausschnaufen“ und ließen Mutter und Kind allein. Die Mutter schaffte es nicht aus dem Bett zu ihrem Kind. Sie macht sich bis heute Vorwürfe, ihr sterbendes Kind nicht im Arm gehabt zu haben.
Da war die Mutter, die Zwillinge zur Welt brachte. Der eine Zwilling überlebte nicht. Sie, die Mutter, war unendlich schwach. Die Geburt war vor der Zeit und sie war irgendetwas um die 200km von zu Hause weg gewesen, als die Geburt einsetzte. Ihr Ehemann, der Vater der Kinder, entschied, dass er seine Frau mit nach Hause nimmt. Sie solle sich erholen können. Er konnte die Situation nicht aushalten. Der zweite Zwilling starb, als sich die Mutter endlich eine Mitfahrgelegenheit verschafft hatte und auf dem Weg zu ihrem Kind war.
Sie war nicht rechtzeitig dort.
Eine Frau erzählte mir, ihre Tochter hat ihr Baby verloren. Die Tochter, im Krankenhaus und natürlich unter Schock, entscheidet, dass sie das Erlebte vergessen will. Die Oma des verstorbenen Babies, also die Frau, mit der ich spreche, sagt: „Mein Enkel kommt in ein Massengrab!“.
So viel Ungerechtigkeit
Und, völlig unfassbar für mich, war die Geschichte einer Mutter, die mir sagte, ihre Tochter war schwanger gewesen. Der Kindsvater hat sie aber zur Abtreibung gezwungen. Trotz des vorgeschriebenen Beratungsgesprächs war es zur Abtreibung gekommen, bevor die Schwangere über alle ihre Möglichkeiten aufgeklärt worden war. Erst nach dem Abbruch vertraute sie sich ihrer Mutter an. Der Kindsvater war über alle Berge, der Arzt hatte alle formalen Kriterien erfüllt. Zurück blieben eine traumatisierte junge Frau und ihre verzweifelte Mutter.
Da sind die Mütter, die mir Fotos von den Grabsteinen ihrer Kinder schicken. Zum Beispiel, weil sie die gleiche Schrift wie auf dem Stein, in Ihrem Ring tragen möchten. Diese Mütter sind so dankbar, dass sie ihr Kind beerdigen durften. Dieses Recht ein Baby zu beerdigen – das haben Eltern noch nicht so lange. Wie viele durften ihr Baby nicht einmal sehen.
Ich habe von einer Hebamme gehört, die (zu den Zeiten, als die ungeborenen Babies noch nicht bestattet werden durften) behauptete, ihr sei das verstorbene Baby ins Klo gefallen. Das alles nur, um es den Eltern für eine heimliche Bestattung mitgeben zu können.
So viel geschenktes Vertrauen
Für mich ist es auf der einen Seite wirklich schlimm diese Geschichten zu hören. Immer wenn ich denke, na, das habe ich aber schon einmal gehört, dann kommt ein Detail dazu, das mir den Magen ausrenkt. Aber, um es klar zu sagen (und das ist die andere Seite): Ich bin zutiefst dankbar für das Vertrauen, das mir von den Müttern (und Grossmüttern!) geschenkt wird. Mein (gesunder) Sohn wird dann besonders heftig umarmt und ich bin so unsagbar froh, dass wir dieses wunderbare Kind haben dürfen.
Um jetzt nochmals auf Buddha zurück zu kommen… Ich habe mich entschieden, diese Geschichten in etwas entpersonalisierter Form hier zusammenzutragen, da ich hoffe, dass der Senfkorn-Sammel-Effekt eintritt. Ich wünsche mir, dass die Mütter, denen es nicht vergönnt ist (alle) ihre Kinder in die Arme zu schließen, lesen können, dass sie nicht alleine sind.
Ihr seid so viele! Es kommt mir vor wie ein freiwilliges Tabu. Ach, Du auch? Oh, Sie auch? Als könntet ihr etwas dafür. Nein, das könnt ihr nicht. Manchmal wünsche ich mir einen Aufschrei, der all den Müttern ohne Kind zeigt, wie viele noch betroffen sind. So wie bei #Aufschrei. Oder jetzt bei #metoo. So viele Frauen. Mütter. Väter. Geschwister. Großmütter und Großväter. Sollte es lediglich daran liegen, dass der # einen Namen braucht, dann schlage ich #jellybeans vor.